Sabine Emmerichs Verwandlung von Botticellis „Geburt der Venus“

Von Dr. Rainer Bessling

 

Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ (1490) gehört zum Bildgedächtnis der westlichen Kultur. Inspiriert von antiken Schriften und Gedichten seiner Zeit stellt der Florentiner Maler darin die Göttin der Liebe bei ihrer Ankunft auf der Erde dar. Schon in den Texten finden sich unterschiedliche Deutungen der Gestalt und des Geschehens. So gilt die „Meerschaumgeborene“ auf der Muschel auch als Herrin der Humanitas und ihre Schönheit ist weniger ein Symbol der körperlichen als der geistigen Liebe. Auch Botticellis Darstellung lässt verschiedene Lesarten zu.

Abseits von der Zurichtung des Bildes in Marketing-Kitsch und Devotionalienhandel setzen sich Künstlerinnen und Künstler seit Jahrhunderten mit den darin aufgeworfenen Motiven und Themen auseinander: Schönheit, Nacktheit, Körperlichkeit, Weiblichkeit, aber auch der männliche Blick. Die Aneignung in diversen medialen Kontexten spiegelt die jeweiligen Debatten wider. Stand im 19. Jahrhundert der nackte weibliche Körper aus ästhetischer und gesellschaftlicher Perspektive im Fokus von vorwiegend Malern, greifen Künstlerinnen in jüngerer Zeit aus feministischer Sicht die klassische wie auch herausfordernde Venus-Erzählung auf. Etwa für den Diskurs über Identitätsfragen und weibliche Ermächtigungsstrategien wie bei Ulrike Rosenbachs Video-Arbeit „Reflexionen über die Geburt der Venus“.

Im Zusammentreffen von antikem Kanon und aktuellen Ereignissen sowie Deutungshorizonten bietet Botticellis Renaissance-Ikone unvermindert Anschlussmöglichkeiten: die lebendige Verkörperung von Idealen, Natürlichkeit und Göttlichkeit, Anfang und Geburt, Individuum und Projektion, Körperideale und die Kolonialisierung des vor allem weiblichen Körpers durch gesellschaftliche Zuschreibungen und repressiven normativen Druck.

Sabine Emmerich setzt in ihrer Installation Botticellis Bild als Referenzobjekt voraus und lässt dessen Erzählung über Anfang und Aufbruch in einer Untergangsszene enden. Ihre Katastrophenschilderung beerdigt den Mythos und markiert zugleich seine uneingelösten Visionen. In ihrer raumfüllenden Arbeit ist die Gestalt der Göttin aus der Vertikalen in die Horizontale gekippt. Sie zeigt sich sterblich. Woran ist sie gestoben? Wer oder was hat sie getötet? Die Lage der schwebenden Figur beschreibt nicht nur inhaltlich Untergang und Fall, sie fällt auch skulptural aus der klassischen Standbild-Norm.

Die „Geburt der Venus“ ereignet sich auf der Schwelle zwischen Wasser und Land, aber auch zwischen Himmel und Erde im materiellen wie metaphorischen Sinn. Bei Botticelli zeigt sich das Meer als Urelement des Lebens, offenbar auch als Ursprung der Mythologie. In der Arbeit von Sabine Emmerich ist das Wasser der Bezirk des Untergangs und Todes. Sowohl die Venus-Erzählungen als auch das Bild Botticellis stellen Momente der Bewegung und die ebenso vitale wie beseelte Leiblichkeit der Göttin in den Mittelpunkt. Die Wirkung der Geburtlichkeit und frühlingshaften Anfänglichkeit wird durch eine unschuldige, verlegene Jugendlichkeit in Gesicht und Gestalt der weiblichen Figur formuliert. Der Körper zwischen Kindsein und Frausein befindet sich wie der landschaftliche Kontext in einem Übergangsstadium.

Der Wind als Motor für die Anlandung der Göttin beherrscht Botticellis Komposition, in deren Dynamik die zentrale Frauengestalt um so wirkungsvoller aufrecht und erhaben in ihrer Körperpracht thront. Der Wind verfängt sich in der Kleidung des Empfangspersonals, das die Ankunft der Venus feiert. Vor allem aber formt er das Haar zu welliger Üppigkeit auf. Zu diesem äußerlichen Vitalisierungsbrausen lässt sich ein innerer Atem assoziieren, der Lebenshauch, den die Göttin auf dem Weg vom olympischen Thron zum irdischen Dasein empfangen hat. Flüssiges und Ätherisches verwandeln sich in feste Form, tragen aber noch das Fluide und Feinstoffliche in sich als vitalen Grundpuls.

Man sollte dieses Aufbruchstreiben im Blick behalten, um die Grabesstille und Endlichkeit ermessen zu können, die von Sabine Emmerichs Venus[1]Adaption ausgeht. Das Leben und Schönheit gebärdende Wasser zeigt sein anderes Gesicht als Tod bringendes Element. An die Stelle des formerzeugenden und animierenden Schaums tritt ein verschlingender Sog. Das Sprudeln ist erstarrt. Die Meeresoberfläche ist in der katastrophischen Raumsituation als rote Linie an der Wand markiert. Der Begriff der roten Linie hat in der politischen Debatte derzeit Konjunktur. Untergangsszenarien, Schreckenserzählungen und aufschäumende Empörungsbekundungen gehören zum medial befeuerten Diagnosen- und Kommunikationsalltag. Der Klimawandel nimmt darin eine zentrale Stellung ein. Nun ist der Krieg auch in die europäische Wirklichkeit und Wahrnehmung zurückgekehrt.

Vollzieht sich der Klimawandel selbst angesichts nicht zu übersehender Symptome noch eher schleichend, verändert der Krieg buchstäblich über Nacht alles. Um im Venus-Bild zu bleiben: Von einem Moment zum anderen wird die strahlende Schönheit zur Wasserleiche, aus einem Jemand wird ein Niemand, aus einem lebendigen Menschen macht die Gewalt ein totes Ding, wie Simone Weil in ihrer „Ilias“-Auslegung schreibt.

Sabine Emmerich formuliert diesen Moment und dessen Ausdehnung in ein zeitliches und räumliches Nichts optisch und haptisch eindringlich. Die Stofflichkeit des Seidenpapiers lässt die Fragilität der Frau empfinden. Nur die fahle, faltige körperlose Hülle ist in einem entleerten Raum ohne eine Regung von Luft geblieben, ein leibloses Seelenkleid, Totenhemd, Leichentuch, Verpuppung der Verstorbenen. Der Anblick eines Leichnams lässt uns selbst erstarren. Durch Gewalt ändert sich alles in einem Augenblick, Krieg verändert das gesamte politische und moralische Gefüge, Krieg zerrt die reale Relativität moralischer Werte wie in einem Brennglas schonungslos ans Licht.

Botticellis Bild und Sabine Emmerichs Transformation lassen viele Anknüpfungen und Auslegungen zu, nicht nur aufgrund von inhaltlichen, sondern auch von formalen Impulsen. Vom Wind ans Ufer geblasen - das erinnert auch an verzweifelte Ausbruchsversuche aus Verfolgung und Elend. Ist Venus ein Fluchtwesen? Bei Botticelli wird sie bejubelt und bekränzt. Wie steht es um unsere Willkommenskultur, wenn Menschen in Anrufung der Humanität und mit der inneren Schönheit einer zweiten Geburt an den Ufern unseres Kulturraums stranden? Sollten wird vor diesem aktuellen Horizont die Muschel aus dem Renaissance-Gemälde nicht nur als archetypische Geburts- und Veredelungsschale, nicht nur als Boot, sondern auch als Krippe lesen oder als Taufbecken? Als Initiationsraum, der eine neue, friedvollere Identität stiftet, der eine Gastlichkeit anmahnt, der als Keimzelle einer Grenzen überschreitenden Gemeinschaft taugen kann?

Das Bild kann aber ebenso einen Platz in der Geschlechterdebatte finden. Eine Frau wird geboren, ein Körper ist geschaffen, ein Körper entwickelt sich in Selbstentwürfen und fremden Überstülpungen. Ist schon die Zuschreibung von Schönheit ein Akt der Objektivierung, der Entmündigung und Verhinderung selbstbestimmter Individualität? Stellt schon der Begriff und die mit ihm operierende Adressierung einer Frau einen Übergriff dar, eine verbale Kolonialisierung des Körpers als Vorstufe seiner Ausbeutung oder sogar Zerstörung? Wer verfügt über den Körper? Eignen wir uns Körper visuell an? Stellt schon der Blick einen übergriffigen, vergiftenden Eroberungsversuch dar?

Während der Arbeit an der Installation waren es vor allem die Ereignisse in Afghanistan, die Sabine Emmerich bewegten. Die Machtübernahme durch die Taliban wirft die weibliche Bevölkerung des Landes um Jahrzehnte zurück. Die neuen alten Herrscher grenzen Mädchen und Frauen vom öffentlichen Leben aus, versperren ihnen wieder die Wege zu Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik. Sie legen die erst vor wenigen Jahren aufgeflammte Energie von Aufbruch und Aussichten lahm. Die Zukunftsperspektiven der Frauen in Afghanistan sind zerstört. Als Hoffnungsschimmer bleiben Evakuierung oder Emigration. Die afghanischen Frauen waren kurzzeitig aus der patriarchal verfügten Unsichtbarkeit aufgetaucht, gerade ertrinken sie wieder. „Die von anderen ausgeübte Gewalt beherrscht die Seele wie der schlimmste Hunger, wenn sie in der ständigen Macht über Leben und Tod besteht.“

Die Betrachtenden können sich der Installation von Sabine Emmerich nicht durch einen distanzierten Blick entziehen. Sie bewegen sich im Radius der Figur, nehmen in einer wohl kalkulierten Proportionalität ein leiblich[1]haptisches Verhältnis zu der verletzlich wirkenden Plastik ein. Die immersive Präsenz des stofflichen Gestalt- und Gewaltgeschehens wirkt direkter als die Repräsentation der Erzählung. Die verklumpten Haarsträhnen, wo zuvor der Wind eine anmutige plastische Pracht ausbildete, beschreiben die Lage im Wasser. Der individuelle vitalisierende Körperschmuck ist eine leblose Masse geworden, die wie ein Stück Holz im imaginären Meer dümpelt. Nichts Heroisches schwingt hier mit, keine Schmerz- und Leidemphase ebnet eine unheilvolle Transzendierung des Schreckens. Hier herrscht pure Leblosigkeit, das Abgeschnittensein von der Welt, das Ende des Austausches mit dem Anderen und den Anderen, stiller einsamer Eingang in den Ursprungsort des Lebens, um vielleicht einen Rest kosmischen Trostes einzubringen.

Die Macht des Bildes ist in Sabine Emmerichs Arbeit wichtiger als kunsthistorische Bildung. Aber was löst ihre Installation aus? Bleibt diese Venus Leichnam, bleibt diese sterbliche Gottheit, dieses untergegangene Ideal ein totes seelenloses Objekt oder reanimiert sie unser Denken und Gedenken zu einem Individuum, das sie vor dem Raub ihres Körpers und Atems war? Wie weit erreicht uns Sabine Emmerichs Venus-Wendung und Vision von zerstörerischem Wandel? Wie weit erreichen uns die Bilder von Krieg und Klimakatastrophe wirklich? Bewegen sie uns zu anderen Einsichten, Ansichten und Verhaltensweisen? Oder verbleiben sie in einer anderen, fremden, zweiten, im Ästhetischen verkapselten Wirklichkeit? In einer Wirklichkeit, mit der wir keine direkten Erfahrungen verbinden können oder wollen, die wir nicht erkennend begreifen, weil uns die Erfahrungen fehlen, auf die wir die Bilder beziehen könnten?

 

Auch die Aneignung der Schönheitsikone und ihre Wendung ins Schreckliche bieten die Gefahr einer Ästhetisierung des Erschütternden und faktisch folgenlose Sublimierung unserer Erschütterungen. Doch sie erneuern auch unsere Wahrnehmung und damit unser Bewusstsein. Kunst bietet immer die Chance einer Verschiebung und Neugeburt unseres Blicks. Botticellis Bild ist die Verkörperung äußerlich bewegten Lebens im Geiste der Renaissance als Wiedergeburt idealisierter antiker Schönheit nach der Starre eines als überlebt empfundenen Mittelalters. Sabine Emmerichs Umschreibung bewegt innerlich durch die Schilderung des Ertränkens menschlicher Möglichkeiten und humanitärer Werte, das in zugerichteter Natur und Unkultur seinen Ursprung hat. Der weibliche Körper ist nicht nur Sinnbild permanent gefährdeter Identität, Integrität, Selbstbestimmtheit und Unversehrtheit, sondern auch Urbild des Ursprungs menschlichen Lebens. Mit dessen Zerstörung zerschellt die Menschlichkeit und vernichtet sich die Menschheit.

Eröffnungsrede, Kunstverein Fischerhude, 12.12.2021 von Simone Ewald

SABINE EMMERICH

GLOBALER MIST. HOFPORTRAITS, STUBENFLIEGEN UND DAS GOLD DER ERDE

 

Wer das Werk von Sabine Emmerich in den letzten Jahren verfolgen konnte, weiß, dass die Künstlerin in ihren Skulpturen, Installationen und Fotografien immer wieder das Verhältnis von Natur, Kultur und Gesellschaft auf hintersinnige Weise auslotet. Anders als Heinrich Breling, der eine intakte bäuerliche Welt darstellte, nimmt sie – gut 100 Jahre später – die Bruchlinien dieser Welt in den Blick. In der Ausstellung Globaler Mist wird die industriell geprägte Landwirtschaft und deren Auswirkungen ästhetisch verarbeitet.

 

HOFPORTRÄTS WEIHNACHTSGÄNSE

Passend zur besinnlichen Adventszeit präsentiert uns Sabine Emmerich Porträts von Weihnachtsgänsen, die auf einem der hiesigen Bauernhöfe entstanden. Von Gänsen also, die namenlos auf unseren Tellern als Festtagsschmaus enden. Schon in der Namensgebung der Arbeit – Hofporträts – kündigt sich eine ironische Umkehrung an. Denn das Hofporträt als Genre hebt ja eigentlich prominente Figuren an fürstlichen Höfen hervor. Diese Prominenz billigt Sabine Emmerich ihren Gänsen zu. 

In der Ausstellung zeigt sie die Porträts nun nicht als Einzelbilder, sondern zusammengefasst in einer Serie. Sie hängen sozusagen im Gänsemarsch an der Wand. Als Betrachter fällt uns zunächst deren formale Uniformität auf: wie in einer Typologie zeigen sich alle Gänse konsequent vor demselben neutralen Hintergrund im Brustporträt en profil und blicken in dieselbe Richtung. Nur der Einfall des Sonnenlichts variiert und mag an die Bildserien Claude Monets erinnern. Der malte ein und dasselbe Motiv, z. B.  Kathedralen und Heuhaufen mit unterschiedlichen Lichtwirkungen immer wieder gleich und doch neu, sodass er heute als Wegbereiter der seriellen Kunst gilt.

Auch Emmerich zeigt uns das Motiv Gans immer wieder gleich und doch neu. Denn gerade im seriellen Kontext offenbaren sich die Unterschiede zwischen diesen auf ersten Blick identisch wirkenden Tieren: Größe und Form von Kopf, Hals, Schnabel und den schönen blauen Augen variieren und zeigen jedes Tier in seiner individuellen Besonderheit. So laden die Hofporträts ein zu einem sowohl vergleichenden als auch präzisen Sehen und zeigen, dass Typisierung und Individualisierung sich nicht ausschließen: Gerade das Besondere scheint durch minimale Veränderung im Allgemeinen auf.

 

 

 

HOFPORTRÄTS MILCHKÜHE

Die Idee der Individualisierung in der Typologie tritt noch deutlicher bei den Hofporträts der Milchkühe hervor. Wie die Gänse sind die Kühe nach derselben Regieanweisung porträtiert: alle schauen sie mit ihrer Schnauze nach links, im selben Ausschnitt, vor selbem leinwandartigen Hintergrund. Die Schwarzweißfotografie unterstreicht die betont sachliche Bildsprache.

Rein formal rufen diese Bildserien der Hofporträts Assoziationen an die Arbeiten von Bernd und Hilla Becher wach. Parallelen bieten sich an zu deren vergleichender Gegenüberstellung von Industriebauten in standardisierten Schwarzweißaufnahmen. Während es jedoch den Bechers um technische Perfektion und kühle Distanz zum Gegenstand ging, sucht Sabine Emmerich die Nähe zum Objekt, welches dadurch aufhört, bloßes Objekt zu sein. Die goldene Rahmung erinnert mit einem Augenzwinkern an repräsentative Porträts. Die Tiere sind, fast schon liebevoll, mit ihren echten Namen versehen. Dem Nutztier wird so jene Würde zurückzugeben, die ihm durch die Massentierhaltung und unseren verdinglichenden Blick genommen wurde.

 

FLIEGEN

Mit derselben ironischen Ernsthaftigkeit tastet sich die Künstlerin an einen so banalen, ja sogar skurril erscheinenden Gegenstand wie die Fliege heran. Im Alltag wird diese als lästig und ekelerregend weggescheucht, der Hollywoodfilm hat er ihr sogar die Gestalt des Monströsen gegeben. Wer wie Sabine Emmerich weiterdenkt, ist sich der Bedeutung der Fliege für das Ökosystem bewusst. Tatsächlich hat die Zahl von Fliegen auf dem gesamten Planeten drastisch abgenommen. Die Gesamtmasse an flugfähigen Insekten hat in Deutschland in den letzten 25 Jahren um mehr als 75 Prozent abgenommen.

 

ÖKO-HOTSPOT KUHFLADEN

Ein Grund für den rapiden Rückgang der Insekten – in ihrer Anzahl und Artenvielfalt – ist eine intensiv betriebene, d.h. industriell ausgerichtete Landwirtschaft. Dazu gehört der Anbau Monokulturen sowie der Einsatz von Dünger und Pestiziden. Aber insbesondere die Verbannung der Rinder von den Weiden in den Stall entzog einem ganzen Ökosystem seine Lebensgrundlage: dem Kuhfladen. Denn die Exkremente der Rinder sind auf der Weide ein einzigartiger Öko-Hotspot. Kaum hat die Kuh ihr Geschäft verrichtet, setzten sich verschiedenste Fliegen, wie die Stuben-, Schmeiß- oder Dungfliege, an den für sie reich gedeckten Tisch. Käfer nutzen den Kuhdung als Bruststätte für ihren Nachwuchs, während es wiederum andere auf ihren Raubzügen durch den Kuhfladen genau auf diesen abgesehen haben. Von unten arbeiten u. a. Tausendfüßler, Asseln und Regenwürmer an der Zersetzung mit. Bis 4.000 Insekten sollen in einem drei Tage alten Kuhfladen zu finden sein – das bietet wiederum den Vögeln reichlich Nahrung.

Bleiben die Kühe nun im Stall oder sind die Kuhfladen mit Entwurmungs-mittel durchsetzt, die der Bauer den Tieren verabreicht hat, wird es ruhig auf den Wiesen und Weiden. Beängstigend ruhig - ein globaler Mist.

 

GOLD DER ERDE

Das treibt auch die Bildhauerin Sabine Emmerich um. Sie möchte mit ihrer Arbeit auf den Wert des Kuhfladens aufmerksam machen, der sich bereits im Titel der Ausstellung andeutet: Gold der Erde. Wo ein Kuhfladen ist, haben wir gelernt, da ist die Fliege nicht weit. Und eine Fliege kommt selten allein. Über 200 sind in den letzten Wochen im Atelier von Sabine Emmerich entstanden. Dabei wurde sie von vielen helfenden Händen unterstützt, die ihr sozusagen unter die Flügel griffen. Wie in einer Manufaktur wurden nach Vorgaben der Künstlerin einzelne Teile der Insektenkörper aus Drahtgestell und Seidenpapier hergestellt, die dann von ihr einzeln bemalt wurden. In der Ausstellung bevölkern diese Objekte die Kuhfladen. Als Entlohnung für den Einsatz darf sich jede/r Helfer/in aus der Ausstellung eine Fliege aussuchen, sie vom Kuhfladen ablösen und mit nach Hause nehmen. Zurück bleibt ein kleiner Punkt, der einerseits aussieht wie ein ‚Fliegenschiss‘, anderseits an die Punkte in Galerien erinnert, mit denen der Verkauf eines Kunstwerks markiert wird. Auch Sie können heute Spuren in der Ausstellung hinterlassen: Wählen Sie ein Exemplar aus, erwerben Sie es und machen es zur Zierde Ihres Wohnzimmers!

Zusätzlich werden Sie mit einem Fliegen-Button belohnt. Dies spielt auf einen Brauch im alten Ägypten an: Tapfere Krieger wurden mit Medaillen in Fliegenform ausgezeichnet. Das mag als militärische Anerkennung überraschen. Viel eher assoziieren wir kämpferische Stärke mit vermeintlich edleren Tieren, wie z. B. dem Löwen. Aber wenn Sie an die Beharrlichkeit einer Fliege denken, wird das Ganze verständlich.  

 

GRENZÜBERSCHREITUNG

Es ist bemerkenswert, dass Sabine Emmerich in dieser Arbeit gleich mehrere Gattungsgrenzen der Kunst überschreitet. Skulpturen werden in der Ausstellung zu einer Art Installation zusammengefügt. Und durch das Einbeziehen der Helfer und des Publikums bekommt die Ausstellung in gewisser Weise den Charakter eines Happenings: Die Besucher und Besucherinnen interagieren mit dem Kunstwerk und gestalten es mit.

Das Werk trifft den Nerv der Zeit, indem es darauf aufmerksam macht, dass der Mensch durch rücksichtslose Effizienzsteigerung natürlicher Ressourcen sich selbst die Lebensgrundlage entzieht. Dabei werden keine einfachen Antworten präsentiert oder moralische Belehrungen vorgenommen. Vielmehr kommt die Inszenierung dieser Problematik bei aller Ernsthaftigkeit leichtfüßig, spielerisch und voller Poesie daher. Die Künstlerin verfügt über zahlreiche Bezüge zur Kunstgeschichte, insbesondere zum Alten Ägypten. Bei der Darstellung des Kuhfladens greift sie auf eine stilisierte Form zurück. Durch die Vergoldung auf der Rückseite mutet er zudem wie eine altägyptische Sonnenscheibe an. Alles Ekelerregende wird ihm genommen.

 

MIMESIS

Will der Mensch sich der Natur nicht nur als zu vernutzende Ressource nähern, so wäre nach einem Wort Adornos, eine mimetische Annäherung zu bedenken. Die Nachahmung der Natur wäre ein Versuch, sie zu verstehen. Etwas von diesem Mimetischen ist auch den Skulpturen von Sabine Emmerich eingeschrieben. Die Skulpturen werden der Natur nachgebildet, aber auch umgeformt. Es entsteht ein sinnlicher Reflexionsraum zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft. Eine Vermittlung von sinnlichem Spiel und ökologischem Bewusstsein, die über bloße Zweckmäßigkeit hinausgeht und so einen poetischen Überschuss freisetzt. Die traditionelle Hierarchie der Tiergestaltung wird durcheinandergewirbelt: Die Kuh bekommt ihren Namen zurück. Die Fliege triumphiert über den Löwen. Der Kuhfladen wird zum lebensspendenden Zentrum der Welt.

 

Simone Ewald

 

 

 


Gedanken zum Kot

 

von Philipp Unterweger

 

Dung, Kot, Stuhl, Faeces, AA, Kacke. Die Begriffe sind so vielfältig, wie die Zahl der unterschiedlichen Dungtypen. Doch spätestens das Wort mit SCH lehrt uns; man nimmt nicht in den Mund, was man nicht anfasst. Verschwiegen und tabuisiert verschwindet unser Stuhl im Tiefspüler und schüchtern werden wir, beschämt sogar, wenn wir vor einem Häufchen stehen. Der Misthaufen, einst der Stolz des Hofs wurde zur verdeckelten Flüssigmistgrube, der Vogeldreck und der Fliegenschiss werden penibel weggerubbelt. Lediglich das Wattwurmhäufchen zerdrücken wir kichernd mit dem großen Zeh.

Dung ist ein allgegenwärtiges Thema, denn wir alle produzieren ihn. Menschen hinter verschlossenen Türen, Hühner ganz beiläufig – sogar ins Futter. Reiher im majestätischen Flug im hohen Boden und Pferde lassen sogar mit Königen auf ihrem Rücken die Äpfel auf die Prachtstraßen der Welt fallen. Der malerischste Akt der Erleichterung stammt von der Kuh, flüssig pflatschend bildet er Fladen mit Ringmuster.

Lange ist es her, dass Dung heilig war. Die Ägypter verehrten ihn und die Mistkäfer. In Indien dient er für rituelle Feuer. Für Bauern war er braunes Gold und für Viehlose waren die Pferdehäufen auf den Straßen ein Geschenk für die Gemüsebeete. Kunstdünger, Massentierhaltung und die „Energiewende weg vom Pferd“ machten aus Mist einen Problemstoff. Er wurde zur Konkurrenz, denn zu billig und gut düngte er. Er wurde zuviel und verschmutzte die Gewässer. Er wurde geächtet, und man tauschte in den Städten Pferdeäpfel gegen Stickoxide.

 

Dung = Nahrung – benötigte Nährstoffe – Wasser + Abfallprodukte

 

Im Fall der meisten Säugetiere ist Kot daher braun. Die Abbauprodukte des Hämoglobins bringen diese Farbe hervor. Bunter Kot ist vor allem von Insektenlarven bekannt. Weißer Kot von Hyänen. Die Hundekacke in den Städten variiert, wie wir alle Wissen, von gräulich, über rotbraun, gelbbraun bis zu schwarz.

Die Konsistenz variiert ebenso. Von hart bis flüssig. Elchköttel erreichen Form und Festigkeit einer Schokopraline. Kuhfladen sind flüssig – ohne dabei Durchfall zu sein. Der Wassergehalt im Stuhl ist unterschiedlich und an die Lebensbedingungen der Tiere angepasst. Kühe haben bis zu 75% Wasser im Stuhl, Pferde immerhin 72% und so zeigt sich, dass vor allem die Qualität der anderen Inhaltsstoffe über die Viskosität entscheidet.

Dung ist ein regelmäßiges Zufallsprodukt. Die Regelmäßigkeit gibt der Verdauungstrakt vor. Den Zufall bestimmt die Wanderfreudigkeit und die Verhaltenseigenschaften der Tiere. Marderhunde und einige Kleinantilopen nutzen feste Kotplätze, die regelmäßig besucht werden. Kühe, und bei denen bleiben wir vermehrt, wirken auf uns sehr ungeplant bei der Abgabe von Fladen.

Beide Strategien haben Vorteile. Kotplätze markieren Reviere und Grenzen – wer kennt nicht das Fuchswürstchen auf dem Grenzstein im Wald? Kuhfladen erlauben weite Wanderungen ohne Fraßunterbrechung. Dung enthält aufgeschlossene Nährstoffe und Samen. Die zufällige Verteilung von Samen und Nährstoffen in der weiten Landschaft trägt zur Ausbreitung von Pflanzen bei. Es wäre aber zu einseitig, die Kuh als reinen Saatgutverteiler zu begreifen. Der Dung fällt und es entfalten sich verschiedene Abläufe.

Der Fladen beginnt eine Sukzession und die Stelle rund um den Fladen wird die nächste Zeit nicht mehr beweidet und Pflanzen können ungestört wachsen und keimen. Eine Weide ist übersät von hellgrünen, frischwüchsigen Stellen. Jenen Plätzen an denen vor einiger Zeit ein Fladen fiel. Es scheint in den Genen fast aller Tiere zu liegen, dass sie nicht in der Nähe von Kot fressen. Eigener Kot wird genauso gemieden, wie der Kot anderer Arten. Ekel als Schutz vor Krankheitserregern und der damit einhergehenden Wiederansteckung. Urinflecken werden demgegenüber kaum gemieden – Urin enthält keine Parasiten und weit weniger Krankheitserreger.

Was mit dem Dung der Tiere passiert, wenn er auf dem Boden liegt bleibt den meisten Menschen ein Geheimnis. Nur Biologen und wirklich interessierte „Freaks“ setzen sich neben einen Fladen und beobachten das Geschehen. Was sie dann sehen ist unglaublich. Ein wahrer Wettlauf beginnt mit der Ausscheidung und es zeigt sich, dass sich im Lauf der Evolution eine wahre Parallelwelt rund um den Kot entwickelt hat.

Dem Kot eines Gras-/Kräuterfressers, eines Herbivoren, fehlt meist nur 10-30% der ehemals enthaltenen Nährstoffe. Die Verdauung von Grünfutter ist Hochkomplex und wird von Bakterien unterstützt. Der ausgeschiedene Dung ist dann oft nur eine Masse aus Halmen, Stängeln und anderen Hackschnitzeln. Pferde- und Elefantenmist sind da die bekanntesten Beispiele. Ein Kuhfladen ist gar nicht groß unterschiedlich, lediglich die Länge der Fasern verändert die Form. Die Tatsache, dass der Kot von Grasfressern nur sehr ineffizient verwertetes Ausgangsmaterial enthält macht ihn besonders attraktiv. Samen passieren ihn weitgehend ungestört, so dass viele Vögel die Häufchen besuchen und nach Samen suchen. Sperlinge, Goldammern, Buchfinken und Bluthänflinge durchsuchen Pflanzenfresserkot nach Sämereien. Es ist naheliegend, dass artenreiche Weiden eine hohe Samenvielfalt enthalten und nur so die Vielfalt der Vögel gefördert werden kann. Reine Grasweiden führen daher zum Artenschwund der Vögel.

Dass auch andere Nährstoffe im Kot in hoher und teilweise ausgeschlüsselter Form vorhanden sind hat im Laufe der Evolution zu einer Reihe von Anpassungen geführt. Mikroorganismen und Pilze zersetzen den Kot. Aber auch eine Reihe von Wirbellosen insbesondere Insekten haben sich auf die Kotverwertung spezialisiert. Diese Insekten bezeichnet man als Kotfresser. oder Scatophagen.

Allein bei den Käfern werden weltweit etwa 9.000-10.000 Dungkäferarten unterschieden. Fast jedes große Tier hat unterschiedliche Arten, die sich um den Kot kümmern. Es ist daher leicht zu verstehen, dass mit jedem ausgestorbenen Großtier auch eine Reihe an hochspezialisierten Insekten ausstirbt. Weitgehend unbekannt ist die Kotfauna z.B. von Mammut, Säbelzahntiger und Wollnashorn.

Mit Sicherheit ist Elefantendung der Modellorganismus für diese Forschungen – dennoch darf auch der Kuhfladen nicht unterschätzt werden. In unserem Ökosystem ist der Kuhfladen der häufigste größere Dung.

Die Besiedlung eines Fladens erfolgt sofort nach der Ausscheidung. Viele Insekten patrouillieren in den Lüften auf gesunden Weiden und warten darauf, dass wieder ein Fladen abgegeben wird. Durch Geruch und zum Teil auch durch die Optik wird der Fladen geortet. Sobald der Fladen gefunden ist beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. In der Regel dauert es nur wenige Sekunden, bis die erste Fliege oder der erste Dungkäfer auf dem Häufchen landet. Wer keinen Zugang zu Weiden hat, kann das auch mit einem Eigenstuhlexperiment im Wald ausprobieren, es eine der vielen verschwiegenen Tätigkeiten auf den Exkursionen von Biologen während des Studiums. Besonders in Regionen mit Pillendrehern, also jenen Dungkäfern, die Kotkugeln rollen ist das ein großes Erlebnis, das man nie mehr vergisst.

Die Artenzahlen auf Kothäufen variieren von Standort zu Standort. Aber man kann in guten Regionen davon ausgehen, dass ein gutes Dutzend verschiedener Käferarten und etwa ein-zwei Duzend Fliegenarten innerhalb der ersten Stunden auf einem Kuhfladen eintreffen.

Es sind meist keine großen Tiere. Die Auffälligen werden etwa 6-8mm lang. Die Auffälligsten jedoch bis zu 3cm.

Der Dung dient für die erwachsenen Insekten nicht in erster Linie als Nahrung. Meist werden Pollen für das Eiweiß und zuckeriger Nektar als Treibstoff benötigt. Dennoch ist der Dung von zentraler Ernährungsfunktion. Die durch die Schleimhäute abgegebenen Salze und Spurenelemente – aber auch die angedauten Pflanzenteile bieten den Insekten eine Futterquelle. Darüber hinaus werden im Dung die Eier abgelegt und die Larven ernähren sich von diesem Brei aus Pflanzenteilen. Entweder direkt im Fladen, was ihm die charakteristischen Löcher verschafft – oder dadurch, dass Teile des Kots abtransportiert und vergraben werden. Hierfür ist der Pillendreher, der seine Eier in Kotkugeln legt und diese vergräbt, weltbekannt.

Zentral fallen beim Beobachten von Kuhfladen die rötlich-gelben Dungfliegen auf. Sie sind mit die ersten, häufigsten und charakteristischsten Tiere auf dem Kuhfladen. Schnell wird beim Beobachten der vielen unterschiedlichen Arten klar, dass es nicht nur um den Dung geht. Die Ernährung der unterschiedlichen Insektenarten variiert extrem. Aber auch innerhalb einer Art gibt es große Unterschiede zwischen den Larven und den erwachsenen Tieren. Es bedeutet also nicht, dass alle Dungbesucher auch Dung fressen. Räuberische Arten machen auf dem Kuhfladen Jagd auf andere Insekten. Emus hirtus erkennt selbst der Laie schnell als den „Löwen vom Fladen“. Größere Insekten fressen kleinere. Andere graben nach Larven. Manche Larven fressen Dung, andere Larven fressen wiederum Larven. So klein ein Kuhfladen von oben aussieht, so komplex wird er bei näherer Betrachtung. Balzende Schmuckfliegen werben um einander, während emsige Kurzflügelkäfer Loch für Loch nach beute absuchen. Ein wahrer Volksfestplatz ist so ein Fladen. Fressen, tanzen, Nachwuchs anbahnen.

Die Biomasse ist enorm. Das Gewicht des Fladens und das Gewicht der daraus resultierenden Insekten ergibt in Summe riesige Mengen an Insekten in allen Größen. Verständlich, dass man in guten Weideregionen fast alle insektenfressenden Vögel findet. Raubwürger, Neuntöter, Blauracken, Wiedehopfe, Rauch- Mehl-, Felsen und Uferschwalben, Kiebitze, Rotschenkel, Braun- und Schwarzkehlchen. In vielen Sprachen heißen diese Tiere „Weidevögel“, im Deutschen sprechen wir von Wiesenbrütern und fragen uns, warum sie auf Wiesen aussterben. Eine extensive und unbefahrende Weidelandschaft ist voller Leben. Der vielfältige Dung ist die Quelle des Lebens und ihn gibt es nur auf extensiven Weiden. Er liefert das Vogelfutter und sorgt für die Ausbreitung von Samen.

Das Insektensterben und der Rückgang der Vogelarten hängt damit zusammen, dass es kaum noch gute Weiden gibt.

Zusätzlich ist Mist stigmatisiert. Es gibt keine Misthaufen mehr in den Dörfern und keine Ställe mit Mist und Stroh. Flüssigmist ist für Insekten untauglich – ihn massieren wir mit langen Gummischläuchen in die Intensivwiesen und damit direkt ins Grundwasser und die angrenzenden Bäche.

Entwurmungsmittel und Antibiotika töten alles Leben ab. Denn der physiologische Unterschied zwischen „Wurm“ und „Fliegen-Made“ ist gering. Tote Fladen bevölkern die Intensivweiden. Landwirte mit Schubkarren sammeln ein und fahren ab, was Insekten tötet. Der Betonkuhfladen ohne Käfer und Fliegen liegt fest auf der Weide und nichteimal ein Wanderstiefel perforiert ihn. Pilze machen sich über ihn – und die Hundewürstchen – her und vergiften so das Tierfutter und die Beziehung zwischen Landwirt und Hundehalter.

Die Insekten sterben. Sie zu retten wäre einfach: mit extensiven Weidelandschaften und lebenden Fladen.

 

 


Ihr langes Haar war aufgelöst

Zwei Überlegungen zu einer Werkgruppe von Sabine Emmerich

 

Die acht Figuren sind Bild und Zelt zugleich. Sie verbinden auf eine einprägsame Weise Distanz und Nähe. Man kann sie betrachten und darin riesige verhüllte Menschen erkennen oder man kann sie betreten und dann eine Tonspur hören. Gehört werden alltägliche Szenen aus dem Leben einer Frau. Sobald die Geräusche erkannt werden, entsteht Nähe und was aus der Ferne völlig fremd erschien, erweist sich als vertraut.

 

I

 

Die Grundidee hinter der Ganzkörperverschleierung ist, dass Frauen vor Blicken geschützt werden sollen und das mit der Verschleierung entstehende Bild ist so stark, dass es Aufmerksamkeit auf sich zieht. Darüber kann man kulturhistorisch sinnieren, aber es zeigt auf einer einfachen Ebene eine der Grundlagen der europäischen Kunst: Wir sehen etwas und wir wissen, dass sich dahinter etwas verbirgt, was wir nicht sehen dürfen, worüber wir dann aber nachdenken. Das kennen wir vom Vorhang des Allerheiligsten des Tempels in Jerusalem oder in der banalen Form als Feigenblatt. Und schon sind wir mitten in einer Debatte, in der es um Bildung und um Kommunikation geht. Was denken wir, wenn wir etwas Verdecktes sehen? Wenn wir diese Form der Ganzkörperverschleierung sehen? Die meisten Betrachter sehen eine Religion, manche eine regionale kulturelle Praxis und nur wenige eine Frau oder noch weniger eine ganz bestimmte Frau. Darauf macht Sabine Emmerich subtil aufmerksam, indem sie die Bildformel um zwei Elemente ergänzt: Erstens Mode, die Tatsache, dass individuelle Kleidung Bedeutungsträger sein kann und zweitens Form. Nur wer sieht, dass die Gewänder verschieden gearbeitet worden sind, folgert, dass sich dahinter unterschiedliche Frauen verbergen. Die großen Formen suggerieren unterschiedliche Haltungen und so werden Betrachter mit dem Instrumentarium der Bildhauerei dazu gebracht, die erste Einschätzung einer anonymen Masse aufzugeben. Die Figuren zwingen zu einer differenzierten Wahrnehmung. Der einfach nachvollziehbare Aufbau aus Papier um ein Metallgerüst, der spätestens dann sichtbar wird, wenn man die Figur betritt, macht nachvollziehbar, wie die einzelnen Formen gefaltet wurden. Der darin subtil enthaltene Hinweis auf Handwerk bringt eine weitere Ebene von Individualität in die Arbeit. Wichtiger ist aber, dass Emmerich durch die acht eine jeweils prägnante Form für eine, ungeachtet der scheinbaren Uniformität, durchscheinenden Individualität schafft.

 

II

Die Werkgruppe thematisiert Neugier. Die Künstlerin hat sich mithilfe ihrer Kunst einer ihr fremden Welt genähert. Dieser Ansatz ist heute eher selten geworden und das hat mit der eigentümlichen Verstrickung von zu simpel gedachter Identität und Kunst zu tun, die wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Dass man über das Fremde nachdenkt und das aus den eigenen Denkkategorien heraus macht, wird oft polemisch missverstanden. Dagegen muss festgehalten werden, dass Kunst zu allererst ein Instrument zur Erweiterung der Identität ist. Es geht nicht um die biedere Einschränkung, »wer ich bin«, sondern darum, über die Wahrnehmung der Welt das Selbst zu erweitern. Es gibt drei Identitätsmodelle: Das fundamentalistische politische Modell besagt eine Person habe eine Identität, am liebsten sofort erkennbar. Das multikulturelle behauptet, dass jeder Mensch mehrere davon besitze und ein drittes, das der Zukunft gehört, verspricht, dass man sie erlangen kann, aber dazu zuallererst simple Identitäten und Zuschreibungen ablegen müsse. Das erste Modell ist statisch, das zweite dynamisch und das dritte aktiv. Man kann sich aus dem vollen Bewusstsein seiner Position heraus in jemanden Fremdes hineindenken. Das man dabei um die eigenen Unzulänglichkeiten weiß und sie reflektiert, ist selbstverständlich (nebenbei genau was Kritik bedeutet) und Kunst ist ein Mittel dazu.

Die Künstlerin verweist für den Titel der Arbeit auf Doris Lessings Bericht aus Afghanistan und damit kommen weitere Bedeutungsebenen hinzu. Die sind vielleicht nicht intentional gedacht, aber sie entfalten sich in der Wahrnehmung und Auseinandersetzung. Über Lessing wird die Vollkörperverschleierung mit der Antike verbunden. Die Autorin, das »Urbild der westlich-emanzipierten Frau« wie es hieß, als sie 2007 den Nobelpreis erhielt, beschreibt in dem Buch unter anderem das Schicksal von Frauen in Afghanistan in den späten 1980er-Jahren und zieht zur Überraschung westlicher Leser die Verschleierung als eine legitime Möglichkeit des Rückzugs in Erwägung. Sie probiert es als Kulturtechnik in London selbst aus und beschreibt dann, wie auf einmal Kommunikation und Aufmerksamkeitserheischung unmöglich werden. Darin wird ein Muster von grundsätzlicher Sympathie sichtbar und der Versuch, sich in andere Rollen einzuleben, und es wird Scheitern und Zweifel deutlich. »Ihr langes Haar war aufgelöst« entstammt dem ersten Kapitel von Lessings Buch, in dem das Schicksal von Afghanistan mit der Geschichte der Seherin Kassandra verbunden wird. Es geht darin um den tragischen Zustand des Menschen. Sie weiß von der Katastrophe, aber niemand hört auf sie, und sie weiß auch das. Im Mythos um Troja ist Kassandra eine leidende und analysierende Frau, die als einzige weiß, was sich im Trojanischen Pferd versteckt und mit Gewalt davon abgehalten wird, zu handeln. Eine Metapher für das Leid der Wissenden. Und die wirklich Wissenden können im Fall der Ganzkörperverschleierung wohl nur die betroffenen Frauen sein. So macht Emmerich mit Hilfe ihrer Formen und eines indirekten Verweises auf die Antike eine paradoxe Situation im Umgang mit Fremden sichtbar.    

 

»Ihr langes Haar war aufgelöst« wurde 2019 als Intervention in der Ausstellung »Bildhauerinnen« im Gerhard-Marcks-Haus gezeigt. Die kunsthistorische Ausstellung thematisierte Klischees und Vorurteile, mit denen Künstlerinnen bis in die 1970er-Jahre hinein konfrontiert wurden. Sabine Emmerich zeigte, wie man heute mit Klischees und Vorurteilen umgehen kann, indem man formale und inhaltliche Register der europäischen Tradition zieht und Nähe schafft.    

 

Dr. Arie Hartog



 

Sabine Emmerich (* 1964 in Marburg/Lahn) ist eine deutsche Bildhauerin.

 

Leben: Sabine Emmerich studierte Freie Kunst an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg bei Prof. Franz Erhard Walther. Auch die Impulse der Professorin für Bildhauerei Elisabeth Wagner prägten ihre künstlerische Entwicklung. Seit 2001 hat Emmerich einen Lehrauftrag an der Hochschule für Künste Bremen und seit 2011 an der Universität Bremen inne.

Im Atelierhaus Bahnhof Sagehorn erarbeitet sie ihre Skulpturen und Installationen.

 

Werk: Im Zentrum von Emmerichs Schaffens steht die Auseinandersetzung mit Erscheinungsform, Verhaltensweisen und Lebensbedingungen von Tier und Mensch. Insbesondere in deren Wechselverhältnis erschließt und offenbart die Künstlerin kritische Zonen des Ökosystems, der Gesellschaft und des Individuums. So umkreisen ihre skulpturalen und installativen Arbeiten beispielsweise die Ästhetik und Existenz von Insekten als Spezies aber auch in deren individueller Erscheinung. Ihre Bildsprache basiert auf intensiver und kundiger Naturanschauung. Aus neu geformter figürlicher Erscheinung entwickelt sie mehrschichtige Bildnisse von menschlicher Existenz, die um basale Kategorien wie Geburt, Tod, Schicksal, Schmerz, Liebe oder Schönheit kreisen.

 

Noch zur Studienzeit entsteht Emmerichs erste große Tierplastik, ein lebensgroßer Elefant (1999). In dieser Arbeit findet sie bereits zu ihren bevorzugten Materialien Drahtgeflecht und Papier. Die monumentale Erscheinung verschafft der Plastik eine erhabene Eindringlichkeit. Die Hülle aus Seidenpapier lässt das massige Wesen zugleich fragil und gefährdet erscheinen und betont dessen dünnhäutige Empfindsamkeit. Gleichzeitig wird die Konstruktivität mit ausgestellt, die das Werk nicht als Nachbildung, sondern als konzeptuell basierte künstlerische Setzung auftreten lässt. Hier entfaltet sich bereits die Vielschichtigkeit von Emmerichs Arbeiten, eine reibungsvolle Korrespondenz zwischen Materialität, Technik, Idee, Inhalt und Präsenz.

 

Eine zentrale Strategie der Bildhauerin liegt in der Größenverschiebung und in der Ausstattung von Tieren mit menschennahen Zügen. Bei der raumfüllenden Plastik eines Mistkäfers (2002) exponiert sie nicht nur die glänzende Schönheit des schillernden Panzers, sondern animiert das Insekt, indem sie die Figur mit Geräuschen menschlichen Atems ausstattet. Auf irritierende Weise fordert hier der motorische Kern und Elan des tierischen Wesens die Wahrnehmung ein. In einer anderen Variante des Themas lässt die Künstlerin minimalisierte menschliche Körper den Platz des Käfers in der

Ballenproduktion einnehmen. Der Mythos des „heiligen Pillendrehers“ als Weltenlenker wird mit menschlicher Mühsal des täglichen Daseinsvollzugs kurzgeschaltet. Mit einer Figurengruppe von 80 Kaiserpinguinen (2005) verweist Emmerich auf die besondere Brutpflege der Tiere, die im Kollektiv und in einem rotierenden Verfahren erfolgt. Wie in allen Werken der Künstlerin entfaltet hier die skulpturale Präsenz eine berührende bildhafte Kraft und führt sinnlich zum besonderen thematischen Kern. In ihrer Installation „Florfliegen und andere Damen“ (2014) inszeniert Emmerich die Grazie der divenhaft wirkenden Insekten in Übergröße und lässt sie märchenhaften oder mythischen Frauenfiguren gleich auftreten.

 

Eine Besonderheit in der Beschäftigung mit Körperlichkeit und Körpersprache stellt die Auseinandersetzung Emmerichs mit der Gestik dar. Monumentalisiert und damit auf verfremdende Weise kenntlich gemacht füllen „Plastische Gesten“ (2000) den Raum. Den Impuls gab die Kunst der Renaissance, in der Hände als zentraler Ausdrucksträger fungierten, in der forcierte und stilisierte Gesten in der Überhöhung von Affekten basierten.  Emmerichs „Puttenhände“ (2003) greifen die Überzeichnung praller Vitalität, die erdige Sinnlichkeit von Engelsprojektionen auf. In der Arbeit „Die Seele baumeln lassen“ (2012) markiert eine durchsichtige Drahtplastik wie eine Raumzeichnung eine schutzlos offene, leichtgewichtige Geste von Selbstversenkung. Neue Gesten hat Emmerich einer Gruppe von Frauenbüsten (2017) eingearbeitet: Die Passivität der Frauen in den  Renaissancebildnissen formt sie in eine feministisch informierte Denk- und Debattierrunde mit aktivem und forschem Habitus um. Mensch und Wolf (2017) lässt sie in einem aggressiven Dialog des Mienenspiels auftreten, wobei die tierische Frontalität wesenhaft und die des Menschen ebenso machtbesessen wie hilflos überzogen erscheint.

 

Eine faszinierende Balance aus Präsenz und Transparenz, aus Oberflächenspannung und Tiefe, eine subtile Modellierung aus Licht und Schatten schafft Emmerich mit ihrem „Waldstück“ (2010). Stämme aus Draht und Papier formulieren eine dichte Reihe, die aus dem Raum zu wachsen scheint, und heben den Betrachter in eine magische Atmosphäre eines urelementaren Erlebnis- und Vorstellungsortes. Soghafte Eindringlichkeit und Undurchdringlichkeit verweben sich in diesem Arrangement, in dem die Bäume zugleich Akteure und Kulisse sind, plastische Körper als tiefgestaffelte Flächen für Projektion und Imagination.

 

 

Neben ihrer bildhauerischen Tätigkeit ist Emmerich auch fotografisch tätig. In Bildnissen von Hühnern, Milchkühen und Kaninchen aus dem bäuerlichen Hofleben, die in ihrem Zitat klassischer Porträtsformate im Seitenprofil zugleich heiter wirken wie auch nachdenklich stimmen, schafft sie den zu bloßen Nutzgütern degradierten Wesen einen individuellen und würdevollen Auftritt. 

                                                                                                                                               Rainer Beßling 2019

 

 

 

 

 

 

 

 

Florfliegen und andere Damen – Zu den neuen Arbeiten Sabine Emmerichs

von Detlef Stein 2014

 

In Sabine Emmerichs Werk treten seit den späten 1990er Jahren immer wieder Tiere auf: eine Kolonie brütender Kaiserpinguine in Lebensgröße, ein trottender afrikanischer Elefant – ebenfalls in Lebensgröße! – oder ein überdimensionierter Mistkäfer, der Atemgeräusche von sich gibt. Die Anatomie jener Tiere und – wie bei den Pinguinen - ihr Verhalten in der Gruppe sind Themen, denen die Künstlerin mit ihren Plastiken auf eindrucksvolle Art und Weise räumliche Präsenz verleiht.

 

In ihrer jüngsten Werkgruppe setzt sich Sabine Emmerich mit einer Insektensorte auseinander, die im Alltag kaum unsere Aufmerksamkeit zu erregen vermag, - und wenn doch -, dann eher als lästiger Störenfried. Die Rede ist von der Florfliege.

Auf einem Speiserest sitzend hat eine solche Fliege die Aufmerksamkeit der Künstlerin erregt. Auf der Fensterbank ihres Ateliers fanden sich bald weitere, teils tote Artgenossinnen, die von der Künstlerin weitergehend inspiziert wurden und für einiges  Erstaunen sorgten: durch ein Mikroskop betrachtet präsentierten sich die Florfliegen unerwartet farbenreich und schimmernd, in ihrer Erscheinung geradezu elfenhaft. Bei Sabine Emmerich stellten sich Assoziationen an die gezierten Gestalten von Prinzessinnen ein; auch an vereinzelte Frauendarstellungen aus der Kunstgeschichte fühlte sie sich erinnert. Dieser Faszination verdankt sich die hier vorgestellte Werkgruppe „Florfliegen und andere Damen“.

 

Wie auch schon bei ihren vorherigen Tierplastiken hat Sabine Emmerich für die Realisation der Plastiken Maschendraht als Werkstoff gewählt. Ausgerechnet dieses widerborstige Material ist es, das der Künstlerin ein getreuliches Nachbilden ihrer „Modelle“ ermöglicht. An den Rändern scharfkantig und stechend, letztlich jedoch weich und biegsam hält es die ihm verliehene Gestalt und ermöglicht der Künstlerin Körperformen zu biegen, die später mit Papieren - wie mit einer künstlichen Haut - überzogen werden.

Schließlich werden den geformten Insekten schimmernde Flügel aus Kunststofffolie   hinzugefügt. Auch jetzt noch, lange nach der Fertigstellung der Werkgruppe, sind in Emmerichs Atelier die Materialproben an den Wänden aufgereiht, die ihre Suche nach einem für diesen Zweck geeigneten Werkstoff dokumentieren.

 

Im Ausstellungsraum werden die Plastiken thematisch durch Zeichnungen und Fotografien ergänzt; zudem inszeniert Sabine Emmerich den Ausstellungsraum, setzt gezielte Lichtspots ein, um durch die hervorgebrachten Schatteneffekte eine märchenhafte oder traumartige Atmosphäre zu erzeugen. Gesteigert wird diese noch durch eine leise Sprechstimme, die aus Lautsprechern ertönt. Gesprochene Worte und Satzfetzen wie „als Ziel die Erlösungssehnsucht“, „der Himmel, die Erde“ oder „die Ahnfrau, die Göttin“ hat die Künstlerin einem Buch über Traumdeutung entnommen und erzeugt durch sie auch thematisch einen assoziativen Raum. In ihm sind die Florfliegen mehr als nur eine Insektenart; sie werden zu Bedeutungsträgerinnen, zu märchenhaften Wesen, sie verkörpern eine zerbrechliche Existenz. Auf eine Kugel montiert erinnert eine der Florfliegen an die Darstellungen der Fortuna, wie sie u.a. im Werk Albrecht Dürers vorkommt, und damit an das Glück und auch die Wandelbarkeit des Glücks. Fotografien von den toten Fliegen, die „Sterbenden Prinzessinnen“, stehen im Kontext des Memento mori und verweisen auf die Vergänglichkeit des Lebens.

 

Mit ihrer Werkgruppe hat Sabine Emmerich eine eigenständige Welt geschaffen, in der sie über Anmut und Verfall, über Entstehung und Wandel und auch über die Aufmerksamkeit gegenüber der Natur reflektiert. Zwischen sachlicher Beobachtung und traumhafter Entrückung eröffnet sich ein Raum, in den auch wir Betrachter eintreten dürfen.

 

Detlef Stein

 

 

 

 

Zu den Arbeiten Sabine Emmerichs

von Rainer Bessling 2012

 

 

Die Männer sind geschäftig. In der Schwebe zwischen Rolle vorwärts und Rolle rückwärts kleben sie mit den Füßen an einer Kugel. Drehen sie ein großes Rad oder werden sie gerädert? Sabine Emmerich schließt mit ihren „Heiligen Pillendreher“ an eine frühere Arbeit und an einen historischen Mythos an. Die alten Ägypter huldigten dem Scarabaeus Sacer, dem ehrwürdigen Käfer, in dessen Gestaltungsertrag, runden Mistballen nämlich, sie ein Symbol der Erde sahen. Nicht nur als Schöpfer der Weltkugel betrachtete man am Nil das fleißige Insekt, sondern auch als deren fortwährenden Antreiber.

 

 

Der Bildhauerin Sabine Emmerich gefielen einerseits die Legende zur Welterklärung und die Beförderung eines Käfers zum Weltenlenker, andererseits konnte sie sich immer schon auch für dessen Form und Farben begeistern, für den gewölbten Panzer, die kräftigen gezahnten Beine, die satten Schwarz-Blau-Töne mit ihrem violetten Schimmer. Die Begeisterung ist umso verständlicher angesichts der Tatsache, dass die schönen Tiere aus Mist einen ganzen Kosmos formen. Ihre männlichen Wiedergänger, die als Ensemble auftauchen, drehen in unterschiedlichen Proportionen Haufen zu Ballen. Mal mag die Sisyphos-Arbeit gelingen, mal wirken die vermeintlichen Gestalter überfordert. Komisch wirkt die Geschäftigkeit allemal.

 

 

Anders bei den Kaiserpinguinmännchen. Die bilden in Sabine Emmerichs Kolonie-Nachbildung in Lebensgröße einen dichten Kreis, um bei antarktischen Temperaturen ihrer Brutpflicht nachzukommen. Auf ihren Füßen, geschützt von einer Hautfalte, lagert das Ei. Durch Rotation sorgt der Männerkreis, dass die Wärme gleichmäßig und gerecht auf die Nachkommenschaft verteilt wird. Pränataler Bezug zum Kind, Teamwork und Solidarität bei der Arterhaltung, was kann man vom Herrn der Schöpfung mehr erwarten. Im übrigen kehrt nach Weibchen gut zwei Monate nach der Eiablage wieder vom Meerausflug zurück.  und löst das Männchen ab. Belohnung gibt‘s für den Einsatz also auch.

 

 

Sabine Emmerich greift in einzelnen Skulpturen und in Figurengruppen Gestalt, Haltung, Verhalten und Lebensumstände von Tieren auf und rückt ihre Protagonisten in häufig lebensgroßer Nachbildung nahe an den Betrachter heran. Ihre Arrangements sich variabel, treten aber in der Regel raumfüllend auf und zeigen sich in einer eindringlichen, unmittelbar berührenden Plastizität. Für den Nachbau einen afrikanischen Elefanten stellte die Künstlerin umfassende anatomische Studien an, um Körperbau und Bewegungsapparat genau zu erfassen. Die Naturnähe bricht sie durch das Material. Das Seidenpapier auf Maschendraht stellt nicht nur offensiv den Charakter des Artefakts aus, sondern spielt auch mit der dünnen Haut, der angesichts der Größe des Tieres häufig verkannten Sensibilität des „Dickhäuters“. Natur und Künstlichkeit, Wesen und Wahrnehmung korrespondieren so vielschichtig miteinander.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In Sabine Emmerichs jüngster Arbeit „Die Seele baumeln lassen“ treten erneut menschliche Gliedmaßen in Übergröße auf. Diesmal scheinen sie allerdings nicht der Kunst entnommen und einer Künstlichkeit nachempfunden zu sein, sondern im Gestus  eines zeichenhaften, allegorischen Realismus gestaltet zu sein. Zwei übergroße Füße samt Unterschenkel eines Mädchens oder einer Frau sind an der Wand angebracht, „schweben“ also frei zwischen Boden und Decke. Eine große Zehe ist über die andere gelegt, eine Geste der Schüchternheit, der inneren Einkehr, der Selbstversenkung. Der Maschendraht ist diesmal nicht bespannt. Die durchsichtige Plastik wirkt wie eine fragile Raumzeichnung, der Körper hat seine Bodenhaftung, der Mensch seine Erdung verloren. Ganz Gefühl und Gedanke, wirkt er zugleich schutzlos offen und leicht. In der Transparenz  offenbart sich das Potenzial, über die körperliche Hülle hinauszuwachsen,