Sabine Emmerichs Verwandlung von Botticellis „Geburt der Venus“

Von Dr. Rainer Bessling

 

Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ (1490) gehört zum Bildgedächtnis der westlichen Kultur. Inspiriert von antiken Schriften und Gedichten seiner Zeit stellt der Florentiner Maler darin die Göttin der Liebe bei ihrer Ankunft auf der Erde dar. Schon in den Texten finden sich unterschiedliche Deutungen der Gestalt und des Geschehens. So gilt die „Meerschaumgeborene“ auf der Muschel auch als Herrin der Humanitas und ihre Schönheit ist weniger ein Symbol der körperlichen als der geistigen Liebe. Auch Botticellis Darstellung lässt verschiedene Lesarten zu.

Abseits von der Zurichtung des Bildes in Marketing-Kitsch und Devotionalienhandel setzen sich Künstlerinnen und Künstler seit Jahrhunderten mit den darin aufgeworfenen Motiven und Themen auseinander: Schönheit, Nacktheit, Körperlichkeit, Weiblichkeit, aber auch der männliche Blick. Die Aneignung in diversen medialen Kontexten spiegelt die jeweiligen Debatten wider. Stand im 19. Jahrhundert der nackte weibliche Körper aus ästhetischer und gesellschaftlicher Perspektive im Fokus von vorwiegend Malern, greifen Künstlerinnen in jüngerer Zeit aus feministischer Sicht die klassische wie auch herausfordernde Venus-Erzählung auf. Etwa für den Diskurs über Identitätsfragen und weibliche Ermächtigungsstrategien wie bei Ulrike Rosenbachs Video-Arbeit „Reflexionen über die Geburt der Venus“.

Im Zusammentreffen von antikem Kanon und aktuellen Ereignissen sowie Deutungshorizonten bietet Botticellis Renaissance-Ikone unvermindert Anschlussmöglichkeiten: die lebendige Verkörperung von Idealen, Natürlichkeit und Göttlichkeit, Anfang und Geburt, Individuum und Projektion, Körperideale und die Kolonialisierung des vor allem weiblichen Körpers durch gesellschaftliche Zuschreibungen und repressiven normativen Druck.

Sabine Emmerich setzt in ihrer Installation Botticellis Bild als Referenzobjekt voraus und lässt dessen Erzählung über Anfang und Aufbruch in einer Untergangsszene enden. Ihre Katastrophenschilderung beerdigt den Mythos und markiert zugleich seine uneingelösten Visionen. In ihrer raumfüllenden Arbeit ist die Gestalt der Göttin aus der Vertikalen in die Horizontale gekippt. Sie zeigt sich sterblich. Woran ist sie gestoben? Wer oder was hat sie getötet? Die Lage der schwebenden Figur beschreibt nicht nur inhaltlich Untergang und Fall, sie fällt auch skulptural aus der klassischen Standbild-Norm.

Die „Geburt der Venus“ ereignet sich auf der Schwelle zwischen Wasser und Land, aber auch zwischen Himmel und Erde im materiellen wie metaphorischen Sinn. Bei Botticelli zeigt sich das Meer als Urelement des Lebens, offenbar auch als Ursprung der Mythologie. In der Arbeit von Sabine Emmerich ist das Wasser der Bezirk des Untergangs und Todes. Sowohl die Venus-Erzählungen als auch das Bild Botticellis stellen Momente der Bewegung und die ebenso vitale wie beseelte Leiblichkeit der Göttin in den Mittelpunkt. Die Wirkung der Geburtlichkeit und frühlingshaften Anfänglichkeit wird durch eine unschuldige, verlegene Jugendlichkeit in Gesicht und Gestalt der weiblichen Figur formuliert. Der Körper zwischen Kindsein und Frausein befindet sich wie der landschaftliche Kontext in einem Übergangsstadium.

Der Wind als Motor für die Anlandung der Göttin beherrscht Botticellis Komposition, in deren Dynamik die zentrale Frauengestalt um so wirkungsvoller aufrecht und erhaben in ihrer Körperpracht thront. Der Wind verfängt sich in der Kleidung des Empfangspersonals, das die Ankunft der Venus feiert. Vor allem aber formt er das Haar zu welliger Üppigkeit auf. Zu diesem äußerlichen Vitalisierungsbrausen lässt sich ein innerer Atem assoziieren, der Lebenshauch, den die Göttin auf dem Weg vom olympischen Thron zum irdischen Dasein empfangen hat. Flüssiges und Ätherisches verwandeln sich in feste Form, tragen aber noch das Fluide und Feinstoffliche in sich als vitalen Grundpuls.

Man sollte dieses Aufbruchstreiben im Blick behalten, um die Grabesstille und Endlichkeit ermessen zu können, die von Sabine Emmerichs Venus[1]Adaption ausgeht. Das Leben und Schönheit gebärdende Wasser zeigt sein anderes Gesicht als Tod bringendes Element. An die Stelle des formerzeugenden und animierenden Schaums tritt ein verschlingender Sog. Das Sprudeln ist erstarrt. Die Meeresoberfläche ist in der katastrophischen Raumsituation als rote Linie an der Wand markiert. Der Begriff der roten Linie hat in der politischen Debatte derzeit Konjunktur. Untergangsszenarien, Schreckenserzählungen und aufschäumende Empörungsbekundungen gehören zum medial befeuerten Diagnosen- und Kommunikationsalltag. Der Klimawandel nimmt darin eine zentrale Stellung ein. Nun ist der Krieg auch in die europäische Wirklichkeit und Wahrnehmung zurückgekehrt.

Vollzieht sich der Klimawandel selbst angesichts nicht zu übersehender Symptome noch eher schleichend, verändert der Krieg buchstäblich über Nacht alles. Um im Venus-Bild zu bleiben: Von einem Moment zum anderen wird die strahlende Schönheit zur Wasserleiche, aus einem Jemand wird ein Niemand, aus einem lebendigen Menschen macht die Gewalt ein totes Ding, wie Simone Weil in ihrer „Ilias“-Auslegung schreibt.

Sabine Emmerich formuliert diesen Moment und dessen Ausdehnung in ein zeitliches und räumliches Nichts optisch und haptisch eindringlich. Die Stofflichkeit des Seidenpapiers lässt die Fragilität der Frau empfinden. Nur die fahle, faltige körperlose Hülle ist in einem entleerten Raum ohne eine Regung von Luft geblieben, ein leibloses Seelenkleid, Totenhemd, Leichentuch, Verpuppung der Verstorbenen. Der Anblick eines Leichnams lässt uns selbst erstarren. Durch Gewalt ändert sich alles in einem Augenblick, Krieg verändert das gesamte politische und moralische Gefüge, Krieg zerrt die reale Relativität moralischer Werte wie in einem Brennglas schonungslos ans Licht.

Botticellis Bild und Sabine Emmerichs Transformation lassen viele Anknüpfungen und Auslegungen zu, nicht nur aufgrund von inhaltlichen, sondern auch von formalen Impulsen. Vom Wind ans Ufer geblasen - das erinnert auch an verzweifelte Ausbruchsversuche aus Verfolgung und Elend. Ist Venus ein Fluchtwesen? Bei Botticelli wird sie bejubelt und bekränzt. Wie steht es um unsere Willkommenskultur, wenn Menschen in Anrufung der Humanität und mit der inneren Schönheit einer zweiten Geburt an den Ufern unseres Kulturraums stranden? Sollten wird vor diesem aktuellen Horizont die Muschel aus dem Renaissance-Gemälde nicht nur als archetypische Geburts- und Veredelungsschale, nicht nur als Boot, sondern auch als Krippe lesen oder als Taufbecken? Als Initiationsraum, der eine neue, friedvollere Identität stiftet, der eine Gastlichkeit anmahnt, der als Keimzelle einer Grenzen überschreitenden Gemeinschaft taugen kann?

Das Bild kann aber ebenso einen Platz in der Geschlechterdebatte finden. Eine Frau wird geboren, ein Körper ist geschaffen, ein Körper entwickelt sich in Selbstentwürfen und fremden Überstülpungen. Ist schon die Zuschreibung von Schönheit ein Akt der Objektivierung, der Entmündigung und Verhinderung selbstbestimmter Individualität? Stellt schon der Begriff und die mit ihm operierende Adressierung einer Frau einen Übergriff dar, eine verbale Kolonialisierung des Körpers als Vorstufe seiner Ausbeutung oder sogar Zerstörung? Wer verfügt über den Körper? Eignen wir uns Körper visuell an? Stellt schon der Blick einen übergriffigen, vergiftenden Eroberungsversuch dar?

Während der Arbeit an der Installation waren es vor allem die Ereignisse in Afghanistan, die Sabine Emmerich bewegten. Die Machtübernahme durch die Taliban wirft die weibliche Bevölkerung des Landes um Jahrzehnte zurück. Die neuen alten Herrscher grenzen Mädchen und Frauen vom öffentlichen Leben aus, versperren ihnen wieder die Wege zu Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik. Sie legen die erst vor wenigen Jahren aufgeflammte Energie von Aufbruch und Aussichten lahm. Die Zukunftsperspektiven der Frauen in Afghanistan sind zerstört. Als Hoffnungsschimmer bleiben Evakuierung oder Emigration. Die afghanischen Frauen waren kurzzeitig aus der patriarchal verfügten Unsichtbarkeit aufgetaucht, gerade ertrinken sie wieder. „Die von anderen ausgeübte Gewalt beherrscht die Seele wie der schlimmste Hunger, wenn sie in der ständigen Macht über Leben und Tod besteht.“

Die Betrachtenden können sich der Installation von Sabine Emmerich nicht durch einen distanzierten Blick entziehen. Sie bewegen sich im Radius der Figur, nehmen in einer wohl kalkulierten Proportionalität ein leiblich[1]haptisches Verhältnis zu der verletzlich wirkenden Plastik ein. Die immersive Präsenz des stofflichen Gestalt- und Gewaltgeschehens wirkt direkter als die Repräsentation der Erzählung. Die verklumpten Haarsträhnen, wo zuvor der Wind eine anmutige plastische Pracht ausbildete, beschreiben die Lage im Wasser. Der individuelle vitalisierende Körperschmuck ist eine leblose Masse geworden, die wie ein Stück Holz im imaginären Meer dümpelt. Nichts Heroisches schwingt hier mit, keine Schmerz- und Leidemphase ebnet eine unheilvolle Transzendierung des Schreckens. Hier herrscht pure Leblosigkeit, das Abgeschnittensein von der Welt, das Ende des Austausches mit dem Anderen und den Anderen, stiller einsamer Eingang in den Ursprungsort des Lebens, um vielleicht einen Rest kosmischen Trostes einzubringen.

Die Macht des Bildes ist in Sabine Emmerichs Arbeit wichtiger als kunsthistorische Bildung. Aber was löst ihre Installation aus? Bleibt diese Venus Leichnam, bleibt diese sterbliche Gottheit, dieses untergegangene Ideal ein totes seelenloses Objekt oder reanimiert sie unser Denken und Gedenken zu einem Individuum, das sie vor dem Raub ihres Körpers und Atems war? Wie weit erreicht uns Sabine Emmerichs Venus-Wendung und Vision von zerstörerischem Wandel? Wie weit erreichen uns die Bilder von Krieg und Klimakatastrophe wirklich? Bewegen sie uns zu anderen Einsichten, Ansichten und Verhaltensweisen? Oder verbleiben sie in einer anderen, fremden, zweiten, im Ästhetischen verkapselten Wirklichkeit? In einer Wirklichkeit, mit der wir keine direkten Erfahrungen verbinden können oder wollen, die wir nicht erkennend begreifen, weil uns die Erfahrungen fehlen, auf die wir die Bilder beziehen könnten?

 

Auch die Aneignung der Schönheitsikone und ihre Wendung ins Schreckliche bieten die Gefahr einer Ästhetisierung des Erschütternden und faktisch folgenlose Sublimierung unserer Erschütterungen. Doch sie erneuern auch unsere Wahrnehmung und damit unser Bewusstsein. Kunst bietet immer die Chance einer Verschiebung und Neugeburt unseres Blicks. Botticellis Bild ist die Verkörperung äußerlich bewegten Lebens im Geiste der Renaissance als Wiedergeburt idealisierter antiker Schönheit nach der Starre eines als überlebt empfundenen Mittelalters. Sabine Emmerichs Umschreibung bewegt innerlich durch die Schilderung des Ertränkens menschlicher Möglichkeiten und humanitärer Werte, das in zugerichteter Natur und Unkultur seinen Ursprung hat. Der weibliche Körper ist nicht nur Sinnbild permanent gefährdeter Identität, Integrität, Selbstbestimmtheit und Unversehrtheit, sondern auch Urbild des Ursprungs menschlichen Lebens. Mit dessen Zerstörung zerschellt die Menschlichkeit und vernichtet sich die Menschheit.