Eröffnungsrede, Kunstverein Fischerhude, 12.12.2021 von Simone Ewald

SABINE EMMERICH

GLOBALER MIST. HOFPORTRAITS, STUBENFLIEGEN UND DAS GOLD DER ERDE

 

Wer das Werk von Sabine Emmerich in den letzten Jahren verfolgen konnte, weiß, dass die Künstlerin in ihren Skulpturen, Installationen und Fotografien immer wieder das Verhältnis von Natur, Kultur und Gesellschaft auf hintersinnige Weise auslotet. Anders als Heinrich Breling, der eine intakte bäuerliche Welt darstellte, nimmt sie – gut 100 Jahre später – die Bruchlinien dieser Welt in den Blick. In der Ausstellung Globaler Mist wird die industriell geprägte Landwirtschaft und deren Auswirkungen ästhetisch verarbeitet.

 

HOFPORTRÄTS WEIHNACHTSGÄNSE

Passend zur besinnlichen Adventszeit präsentiert uns Sabine Emmerich Porträts von Weihnachtsgänsen, die auf einem der hiesigen Bauernhöfe entstanden. Von Gänsen also, die namenlos auf unseren Tellern als Festtagsschmaus enden. Schon in der Namensgebung der Arbeit – Hofporträts – kündigt sich eine ironische Umkehrung an. Denn das Hofporträt als Genre hebt ja eigentlich prominente Figuren an fürstlichen Höfen hervor. Diese Prominenz billigt Sabine Emmerich ihren Gänsen zu. 

In der Ausstellung zeigt sie die Porträts nun nicht als Einzelbilder, sondern zusammengefasst in einer Serie. Sie hängen sozusagen im Gänsemarsch an der Wand. Als Betrachter fällt uns zunächst deren formale Uniformität auf: wie in einer Typologie zeigen sich alle Gänse konsequent vor demselben neutralen Hintergrund im Brustporträt en profil und blicken in dieselbe Richtung. Nur der Einfall des Sonnenlichts variiert und mag an die Bildserien Claude Monets erinnern. Der malte ein und dasselbe Motiv, z. B.  Kathedralen und Heuhaufen mit unterschiedlichen Lichtwirkungen immer wieder gleich und doch neu, sodass er heute als Wegbereiter der seriellen Kunst gilt.

Auch Emmerich zeigt uns das Motiv Gans immer wieder gleich und doch neu. Denn gerade im seriellen Kontext offenbaren sich die Unterschiede zwischen diesen auf ersten Blick identisch wirkenden Tieren: Größe und Form von Kopf, Hals, Schnabel und den schönen blauen Augen variieren und zeigen jedes Tier in seiner individuellen Besonderheit. So laden die Hofporträts ein zu einem sowohl vergleichenden als auch präzisen Sehen und zeigen, dass Typisierung und Individualisierung sich nicht ausschließen: Gerade das Besondere scheint durch minimale Veränderung im Allgemeinen auf.

 

 

 

HOFPORTRÄTS MILCHKÜHE

Die Idee der Individualisierung in der Typologie tritt noch deutlicher bei den Hofporträts der Milchkühe hervor. Wie die Gänse sind die Kühe nach derselben Regieanweisung porträtiert: alle schauen sie mit ihrer Schnauze nach links, im selben Ausschnitt, vor selbem leinwandartigen Hintergrund. Die Schwarzweißfotografie unterstreicht die betont sachliche Bildsprache.

Rein formal rufen diese Bildserien der Hofporträts Assoziationen an die Arbeiten von Bernd und Hilla Becher wach. Parallelen bieten sich an zu deren vergleichender Gegenüberstellung von Industriebauten in standardisierten Schwarzweißaufnahmen. Während es jedoch den Bechers um technische Perfektion und kühle Distanz zum Gegenstand ging, sucht Sabine Emmerich die Nähe zum Objekt, welches dadurch aufhört, bloßes Objekt zu sein. Die goldene Rahmung erinnert mit einem Augenzwinkern an repräsentative Porträts. Die Tiere sind, fast schon liebevoll, mit ihren echten Namen versehen. Dem Nutztier wird so jene Würde zurückzugeben, die ihm durch die Massentierhaltung und unseren verdinglichenden Blick genommen wurde.

 

FLIEGEN

Mit derselben ironischen Ernsthaftigkeit tastet sich die Künstlerin an einen so banalen, ja sogar skurril erscheinenden Gegenstand wie die Fliege heran. Im Alltag wird diese als lästig und ekelerregend weggescheucht, der Hollywoodfilm hat er ihr sogar die Gestalt des Monströsen gegeben. Wer wie Sabine Emmerich weiterdenkt, ist sich der Bedeutung der Fliege für das Ökosystem bewusst. Tatsächlich hat die Zahl von Fliegen auf dem gesamten Planeten drastisch abgenommen. Die Gesamtmasse an flugfähigen Insekten hat in Deutschland in den letzten 25 Jahren um mehr als 75 Prozent abgenommen.

 

ÖKO-HOTSPOT KUHFLADEN

Ein Grund für den rapiden Rückgang der Insekten – in ihrer Anzahl und Artenvielfalt – ist eine intensiv betriebene, d.h. industriell ausgerichtete Landwirtschaft. Dazu gehört der Anbau Monokulturen sowie der Einsatz von Dünger und Pestiziden. Aber insbesondere die Verbannung der Rinder von den Weiden in den Stall entzog einem ganzen Ökosystem seine Lebensgrundlage: dem Kuhfladen. Denn die Exkremente der Rinder sind auf der Weide ein einzigartiger Öko-Hotspot. Kaum hat die Kuh ihr Geschäft verrichtet, setzten sich verschiedenste Fliegen, wie die Stuben-, Schmeiß- oder Dungfliege, an den für sie reich gedeckten Tisch. Käfer nutzen den Kuhdung als Bruststätte für ihren Nachwuchs, während es wiederum andere auf ihren Raubzügen durch den Kuhfladen genau auf diesen abgesehen haben. Von unten arbeiten u. a. Tausendfüßler, Asseln und Regenwürmer an der Zersetzung mit. Bis 4.000 Insekten sollen in einem drei Tage alten Kuhfladen zu finden sein – das bietet wiederum den Vögeln reichlich Nahrung.

Bleiben die Kühe nun im Stall oder sind die Kuhfladen mit Entwurmungs-mittel durchsetzt, die der Bauer den Tieren verabreicht hat, wird es ruhig auf den Wiesen und Weiden. Beängstigend ruhig - ein globaler Mist.

 

GOLD DER ERDE

Das treibt auch die Bildhauerin Sabine Emmerich um. Sie möchte mit ihrer Arbeit auf den Wert des Kuhfladens aufmerksam machen, der sich bereits im Titel der Ausstellung andeutet: Gold der Erde. Wo ein Kuhfladen ist, haben wir gelernt, da ist die Fliege nicht weit. Und eine Fliege kommt selten allein. Über 200 sind in den letzten Wochen im Atelier von Sabine Emmerich entstanden. Dabei wurde sie von vielen helfenden Händen unterstützt, die ihr sozusagen unter die Flügel griffen. Wie in einer Manufaktur wurden nach Vorgaben der Künstlerin einzelne Teile der Insektenkörper aus Drahtgestell und Seidenpapier hergestellt, die dann von ihr einzeln bemalt wurden. In der Ausstellung bevölkern diese Objekte die Kuhfladen. Als Entlohnung für den Einsatz darf sich jede/r Helfer/in aus der Ausstellung eine Fliege aussuchen, sie vom Kuhfladen ablösen und mit nach Hause nehmen. Zurück bleibt ein kleiner Punkt, der einerseits aussieht wie ein ‚Fliegenschiss‘, anderseits an die Punkte in Galerien erinnert, mit denen der Verkauf eines Kunstwerks markiert wird. Auch Sie können heute Spuren in der Ausstellung hinterlassen: Wählen Sie ein Exemplar aus, erwerben Sie es und machen es zur Zierde Ihres Wohnzimmers!

Zusätzlich werden Sie mit einem Fliegen-Button belohnt. Dies spielt auf einen Brauch im alten Ägypten an: Tapfere Krieger wurden mit Medaillen in Fliegenform ausgezeichnet. Das mag als militärische Anerkennung überraschen. Viel eher assoziieren wir kämpferische Stärke mit vermeintlich edleren Tieren, wie z. B. dem Löwen. Aber wenn Sie an die Beharrlichkeit einer Fliege denken, wird das Ganze verständlich.  

 

GRENZÜBERSCHREITUNG

Es ist bemerkenswert, dass Sabine Emmerich in dieser Arbeit gleich mehrere Gattungsgrenzen der Kunst überschreitet. Skulpturen werden in der Ausstellung zu einer Art Installation zusammengefügt. Und durch das Einbeziehen der Helfer und des Publikums bekommt die Ausstellung in gewisser Weise den Charakter eines Happenings: Die Besucher und Besucherinnen interagieren mit dem Kunstwerk und gestalten es mit.

Das Werk trifft den Nerv der Zeit, indem es darauf aufmerksam macht, dass der Mensch durch rücksichtslose Effizienzsteigerung natürlicher Ressourcen sich selbst die Lebensgrundlage entzieht. Dabei werden keine einfachen Antworten präsentiert oder moralische Belehrungen vorgenommen. Vielmehr kommt die Inszenierung dieser Problematik bei aller Ernsthaftigkeit leichtfüßig, spielerisch und voller Poesie daher. Die Künstlerin verfügt über zahlreiche Bezüge zur Kunstgeschichte, insbesondere zum Alten Ägypten. Bei der Darstellung des Kuhfladens greift sie auf eine stilisierte Form zurück. Durch die Vergoldung auf der Rückseite mutet er zudem wie eine altägyptische Sonnenscheibe an. Alles Ekelerregende wird ihm genommen.

 

MIMESIS

Will der Mensch sich der Natur nicht nur als zu vernutzende Ressource nähern, so wäre nach einem Wort Adornos, eine mimetische Annäherung zu bedenken. Die Nachahmung der Natur wäre ein Versuch, sie zu verstehen. Etwas von diesem Mimetischen ist auch den Skulpturen von Sabine Emmerich eingeschrieben. Die Skulpturen werden der Natur nachgebildet, aber auch umgeformt. Es entsteht ein sinnlicher Reflexionsraum zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft. Eine Vermittlung von sinnlichem Spiel und ökologischem Bewusstsein, die über bloße Zweckmäßigkeit hinausgeht und so einen poetischen Überschuss freisetzt. Die traditionelle Hierarchie der Tiergestaltung wird durcheinandergewirbelt: Die Kuh bekommt ihren Namen zurück. Die Fliege triumphiert über den Löwen. Der Kuhfladen wird zum lebensspendenden Zentrum der Welt.

 

Simone Ewald